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In einem Teenagerzimmer, nicht weit von Frankfurt am Main, sitzt der 15-jährige Daniel Gräber* und versucht, einen der kompliziertesten Finanzmärkte der Welt zu knacken. An der Zimmertür steht »Pro-Gamer am Zocken«, auf einem Regal verstaubt ein altes Legoraumschiff. Daniels Pulli ist von Nike, die Socken von Calvin Klein. Er wirkt in sich gekehrt und emotional gedämpft. Man hört, dass er noch nicht durch den Stimmbruch ist, wenn er über seinen Traum vom Reichtum erzählt. Und wofür er seine Millionen ausgeben würde.
Weit oben auf seiner Liste steht eine seltene Armbanduhr. Die Fassung ist aus Roségold, das Zifferblatt aus Diamanten. Edelsteine kreisen in ihr wie Planeten. Dazu ein Lamborghini. Vielleicht eine Immobilie in Frankfurt am Main. Und er will »random seine Kumpels anrufen« und sie auf Reisen einladen. »Yo, Bro, Bock auf die Malediven? Ich buch den Privatjet.«
Zwischen Teenagerzimmer und Privatjet klafft eine große Lücke, doch Daniel ist zuversichtlich, sie zu schließen. Er will im Devisenmarkt einsteigen. Auf seinem Laptop analysiert er Wechselkurspaare. Neuseeländischer Dollar zu japanischem Yen. Kanadischer Dollar zu Schweizer Franken. Er zieht Hilfslinien durchs Auf und Ab der Kurse und erzählt vom »exponentiellen Erfolg«. Vom großen Durchbruch, den sie ihm in der Academy versprechen.
Angst vor dem Abstieg
Deutschland steht vor der größten Krise der Nachkriegszeit. Pandemie, Ukrainekrieg und Inflation bedrohen den Wohlstand. Deshalb will die Regierung die Bürger entlasten. Aber die Gefahr ist groß, dass alles noch schlimmer wird. Und es ist umstritten, wer von den Maßnahmen profitieren soll.
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Er wirkt angefixt. So wie Zigtausende Jugendliche, die von angeblichen Finanzgurus im Internet angeworben werden und Fantasien von finanziellem Größenwahn eingeimpft bekommen. Sie posten Protzvideos aus Infinity-Pools, Fotos aus Privatjets – und werben darunter für ihre obskuren »Onlineakademien«. Hashtags: #Forex und #Krypto. Eine riesige neue Trading-Welle rolle heran, behaupten die Nepper. Man müsse jetzt das Potenzial des Internets ausschöpfen. Jetzt den Grundstein für die eigene Unabhängigkeit legen. Mit wenig Vorwissen. So gut wie ohne Startkapital. In kürzester Zeit. Ein Narr, wer noch zur Schule gehe. Oder ins Büro.
Die Generationen Y und Z gelten als besonders offen für alternative Einnahmequellen. Durch Arbeit allein werden sich wohl nur die wenigsten von ihnen ein Haus oder eine auskömmliche Rente leisten können. Das Mantra »studieren, arbeiten, reich werden« klingt für viele von ihnen wie Hohn. Viele suchen ihr Glück nun im Finanzhandel.
2021 haben rund 650.000 Deutsche unter 30 das erste Mal Wertpapiere gekauft. Anders als ihre Eltern machen sie sich oft einen Spaß daraus. Sie streamen sich live beim Aktienhandel. Teilen unter dem Hashtag #f*ckup ihre Verluste. Garnieren Börsenkurse mit lustigen Memes. An sich ist das eine erfreuliche Entwicklung, gerade bei den notorisch börsenskeptischen Deutschen. Nur wimmelt es in diesem Kosmos von falschen Propheten.
Daniel ist bei der IM Mastery Academy gelandet. Einem globalen Strukturvertrieb, der nach eigenen Angaben mehr als 400.000 Mitglieder hat. Die Firma behauptet, sie könne Laien für noch unerschlossene Märkte fitmachen. Mit Lehrvideos, Apps und dem »richtigen Mindset«. Monatsgebühr: bis zu 275 Dollar.
Finanzexperten halten die »Akademie« für nutzlos. Psychologen sprechen von sektenähnlichen Zuständen. Finanzwächter in Belgien und Frankreich warnen vor einem Pyramidensystem. Ermittler in Spanien nahmen jüngst acht leitende IM-Mitglieder fest.
In Deutschland indes startet die Firma durch. Von Berlin bis Bielefeld werden neue Mitglieder geworben. Rund 35.000 soll es schon geben. Oft sind es Jugendliche oder junge Erwachsene. Bei manchen verändert sich die Persönlichkeit.
»Bald zahl ich die Hypothek«, hat Daniel neulich dem Vater entgegengebrüllt. Er werde nach Frankfurt ziehen, zur Not die Schule schmeißen. »Dort lernt man ja eh nichts, was man als Trader gebrauchen kann.«
Das Lockmittel
Vor der IM Academy hatte Daniel eine schwere Zeit. Beim Fußball wurde er gemobbt. Auf dem Gymnasium fand er zunächst kaum Freunde. Er saß meist allein vor dem Rechner und zockte irgendwelche Spiele.
In der Schule rutschte er immer mehr ab. Die siebte Klasse wiederholte er freiwillig. Beim zweiten Anlauf stand er in Spanisch bald wieder auf einer Fünf. Der Vater riet ihm, auf die Gesamtschule zu wechseln. Er meinte es gut; doch der Sohn fühlte sich gekränkt. »Nichts in Daniels Leben schien zu klappen«, sagt seine Mutter Martina Gräber*. »Er fühlte sich wie ein Niemand.«
Anfang 2021 hörte Daniel das erste Mal von der IM Academy. Ein Nachbarsjunge namens Valentino postete plötzlich glamouröse Videos. Mal saß er im Jet nach Sylt, mal flanierte er durch Valencia. In seinem Profil stand »Robbing The Bank Legally«.
Valentinos Eltern hatten nie viel Geld besessen. Sie leben in einem kleinen Reihenhaus nicht weit von den Gräbers. »Das Ganze war echt geisteskrank«, sagt Daniel. Er habe Valentino angechattet und gefragt, was da laufe.
Sie trafen sich. Mehrere Stunden erklärte Valentino ihm den Finanzmarkt. Fremdkapital, Hebelwirkung, Fibonacci: Daniel rauchte der Kopf. Doch Valentino beruhigte ihn. »Traden ist auch nur ein skill«, sagte er. Nur eine Fertigkeit wie Mathe und Schwimmen. Das könne wirklich jeder lernen. Es gebe da diese Onlineakademie.
Dann zeigte er Daniel einen Screenshot. Gut hunderttausend Euro hatte er angeblich auf dem Konto, nur dank geschickter Trades. Daniel wollte auch so ein Leben.
Für eine Weile nutzte er Valentinos IM-Account. Dann bat er den Vater, sich für ihn anzumelden. Der lehnte ab.
Daniel ließ sich nicht beirren. Er trug Zeitungen aus, um die Monatsgebühr zu finanzieren. Fand einen volljährigen Kumpel, der sich für ihn anmeldete. So konnte er auch Prämien aus dem Strukturvertrieb kassieren, der erst ab 18 ist. Am 13. Juni 2021 war es so weit. Er war jetzt ein Schüler der Academy.
Die Hirnwäsche
Durch seinen Beitritt zur IM Academy wurde Daniel Teil eines movements. So heißen die Untergruppen der Plattform, in denen sich Mitglieder selbst organisieren. Daniels Gruppe »Empire« hat rund 2000 Mitglieder. Manche sind erst 15 oder 16.
Der Gründer von Empire ist ein ehemaliger Warenhausarbeiter, der auf Instagram das Lukas-Evangelium zitiert und sich jetskifahrend vor der Skyline Dubais zeigt. Er heißt Ilija Zubiks, ist Anfang 20 und streicht laut Firmenunterlagen jede Woche 12.500 Dollar für die von ihm geworbenen Mitglieder ein. Und für die Mitglieder, die diese werben. Und immer so weiter.
Daniels Unterricht gliederte sich in drei Bereiche. Trainingseinheiten für das richtige »Mindset«. Lehrvideos und Livestreams zum Wechselkurshandel. Und Seminare, wie man selbst Mitglieder wirbt.
Die »Mindset«-Kurse sind meist billig gemachte Motivationstrainings. »Bleib immer positiv«, heißt es darin. »Der Einzige, der dich stoppen kann, bist du selbst.« Man soll täglich Affirmationen aufsagen. Ohne T-Shirt in den Schnee gehen. Bücher lesen wie »Rich Dad Poor Dad«, das reguläre Arbeit abwertet.
Andere Lektionen sind manipulativer. IM Academy nicht mit anderen zu teilen, sei wie Krebskranken ein Heilmittel vorzuenthalten, heißt es. Man müsse bereit sein, Freunde zu verlieren. Manchmal werden Verschwörungsfilme wie »The Secret« empfohlen, laut denen sich Erfolg energetisch beeinflussen lässt.
Oberster IM-Wert ist Durchhaltevermögen. »Die ersten zwei, drei Jahre ist es hart«, heißt es immer wieder. Man müsse dranbleiben. (Und weiter die Monatsgebühr zahlen.) Irgendwann komme das exponentielle Wachstum. »Dann heißt es take, take, take.«
Daniel hörte viele solcher Lektionen. Er genoss die Komplimente in den Chats. Die gute Stimmung auf der Plattform. Bald loggte er sich fast jeden Abend ein und blieb bis zu fünf Stunden. Das Gamen gab er auf, ebenso den Fußball. Selbst beim Abendessen verschwand er in irgendwelche Calls. »In der Academy geht es sehr kollegial zu«, sagt er. »Ich fühle mich dort wertgeschätzt und von der Gruppe getragen.«
Es sind Mechanismen, wie man sie von Sekten kennt. »Mitglieder solcher Organisationen bestätigen sich oft permanent gegenseitig«, sagt Psychologin Claudia Groß, die die Gruppendynamik von Strukturvertrieben erforscht, auch die der IM Academy. »Jede Kleinigkeit wird beklatscht.«
Man pumpe das eigene Selbstwertgefühl auf. Rede sich ein, man könne alles erreichen. Wer keinen Erfolg habe, gebe meist nur sich selbst die Schuld – nicht dem System im Hintergrund. Die Techniken sind als »Lovebombing« und »toxische Positivität« bekannt. Psychisch labile Menschen, so Groß, könnten danach süchtig werden. Auch Teenager seien gefährdet, weil ihre Identität noch nicht so gefestigt sei. »Entsprechend stürzen sich solche Firmen gern auf sie.«
Die Firma
Die IM Academy wurde von Christopher Terry mitgegründet, einem Babyface mit zurück gegeltem Haar, dessen Hauptglaubenssatz lautet, dass jeder Mensch traden kann. »Du musst nicht den Markt verstehen«, soll Terry gesagt haben. »Du musst nur die Menschen am Markt verstehen.«
Als bestes Beispiel sieht er sich selbst. Auf einer inzwischen gelöschten IM-Seite beschrieb er seinen Aufstieg – vom Bauarbeiter aus der Bronx zu einem der angeblich besten Wechselkurshändler Amerikas. Seine Karriere beim Strukturvertrieb Amway verschwieg er. Auf SPIEGEL-Anfragen zu seiner Biografie reagierte Terry nicht.
Im Login-Bereich der IM Academy strahlen einem weichgezeichnete Models entgegen. In den Lehrvideos läuft manchmal Gangster-Rap. Dennoch wirken sie auf den ersten Blick solide. Währungs- und Kryptomärkte werden erklärt, dazu verschiedene Methoden der Chartanalyse. Finanzblogger auf YouTube erklären einem solch Allgemeinwissen allerdings gratis.
Echten Mehrwert sollen sogenannte GoLive-Sessions bieten, in denen Dozenten ihren Bildschirm teilen, während sie am Finanzmarkt handeln. Andere IMler können ihre Orders einfach kopieren. »Copy-and-Paste-Trading«, nennt die Firma das. Es sei, als würde »Warren Buffet bei dir am Tisch sitzen«, sagt ein IMler. Es gibt sogar Apps dafür. In einer wischt man Trades nach links und rechts wie bei Tinder.
Holger Graf, selbst Finanzmathematiker und ehemaliger Investmentbanker, ist skeptisch. »Forex ist ein vollkommen unberechenbarer Markt«, sagt er. Für Laien sei das zu riskant. Überhaupt setze man im Geschäft mit Wechselkursen generell auf längere Zeiträume, nicht auf Spontan-Trades wie bei der IM Academy. »Kein Profi sitzt einfach vor dem PC und setzt ohne relevante News darauf, dass gleich der Yen-Kurs steigt.« Chartanalysen, wie IM sie lehre, seien im Forex-Markt nutzlos. Auch in anderen Assetklassen spielten sie für professionelle Anleger kaum keine Rolle.
Der Fokus auf Forex könnte eine Verkaufsstrategie sein. Je komplizierter ein Markt sei, desto attraktiver seien angebliche Bildungsangebote vermeintlicher Finanzakademien, sagt Finanzblogger Thomas Kehl, 31, dessen Videokanal fast eine Million Menschen abonniert haben. »Wenn es schlecht läuft, heißt es, dass die Mitglieder ihre Strategie nur weiter optimieren müssen.«
Die Maschen solcher Firmen kennt Kehl gut. Nach dem Abi ist er selbst mal in einem Strukturvertrieb gelandet. Auch er ließ sich damals einreden, er könne den Markt schlagen. Stattdessen zehrte er nur seine Ersparnisse auf. Und teils die Rücklagen seiner Eltern. Die Anbieter seien wie »Durchlauferhitzer«, sagt Kehl. »Es funktioniert nur, weil ständig neue Leute geworben werden.«
Die IM Academy hat weder zu diesen noch zu anderen Vorwürfen Stellung genommen.
Die Eltern
Nach den stundenlangen Academy-Abenden war Daniel am nächsten Tag oft platt. »Heute gehe ich nicht zur Schule«, sagte er eines Morgens zum Vater. »Dort gibt es eh nur Dummfächer.« Er kenne Leute, die ohne Abschluss Millionär geworden seien.
»Wenn du schwänzt, schalte ich das Jugendamt ein«, drohte Heiner Gräber*. »Dann hol ich die Polizei.« Er zog Daniel die Bettdecke weg.
»Warum fährst du diesen schäbigen VW?«, fragte Daniel. »Selbst deine Mitarbeiter haben bessere Autos als du.«
Solche Sprüche treffen Heiner Gräber. Weil er merkt, wie sich Daniels Wertesystem verändert. Wie fremd ihm sein Sohn inzwischen ist. Der 50-jährige ITler stammt selbst aus einem Bildungshaushalt. Der Vater war Sportprofessor, die Mutter Grundschullehrerin. Sie lebten gut, aber nie verschwenderisch. Engagierten sich für Tierschutz und soziale Gerechtigkeit. Wählten zeit ihres Lebens SPD.
Die Angeberwelt der IM Academy ist Gräber ein Gräuel. Trotzdem ließ er den Sohn lange gewähren. »Er soll seine eigenen Erfahrungen machen«, sagt Gräber. Er habe als Student selbst eine Firma gegründet. »Ich wollte Daniels Unternehmergeist nicht bremsen.«
Doch die IM Academy vermittelt seinem Sohn keine unternehmerischen Werte. Reguläre Arbeit ist dort was für Verlierer. Schule sowieso. Daniels Mutter glaubt, ihr Sohn stehe unter großem Druck. »Wir zählen zur oberen Mittelklasse«, sagt sie. »Aber in Daniels Wahrnehmung sind wir bettelarm.« Stundenlang schaue er diese Protzvideos auf Instagram. »Es ist, als hänge sein Selbstwert nur noch davon ab.«
Daniels Eltern begannen, über die IM Academy zu recherchieren. Sie sprachen mit Daniels Vertrauenslehrer. Versuchten es mit einem Psychologen. Zeigten ihm kritische Berichte über die IM Academy. Doch je mehr sie intervenierten, desto heftiger wurden die Streitereien. Manchmal brüllten sich Vater und Sohn aus voller Kehle an. »Mach bloß nicht so viel Druck«, warnte Martina Gräber ihren Mann. »Sonst haut Daniel noch irgendwann ab.«
Die Show
Anfang Mai findet im dritten Stock des Park Inn am Berliner Alexanderplatz ein Werbeevent der IM Academy statt. Auf einer bassigen Bluetooth-Box läuft Flo Ridas Hit »Low«. Mehr als hundert junge Menschen klatschen, schreien und reißen die Arme in die Luft. Sie tragen Tattoos oder Rollrucksäcke, Hoodies oder Anzüge. Schülerinnen, Azubis und Studierende sind gekommen, um mit der IM Academy reich zu werden. Und um die berühmt-berüchtigte IM-Show zu genießen.
In Videos von anderen IM-Events badet Firmengründer Christopher Terry in einer tobenden, auf und ab hüpfenden Menschenmasse. »Oooh, Christopher Terry«, singen IMler zur Melodie von »Seven Nations Army«. In einem anderen Clip beerdigt Terry den Bankrott symbolisch in einem Sarg.
Die Veranstaltung in Berlin verläuft ähnlich emotional. Tim Heine, 19, erzählt, wie »lost« er war – bis er »Rich Dad Poor Dad« las. Micky Gal, 22, erzählt, wie er angeblich Hunderte »Abhängig-Kranke« in die finanzielle Selbstbestimmung geführt hat. Und Ilija Zubiks, der Chef von Daniels IM-Gruppe Empire, sagt: »Wenn du keinen Weg findest, im Schlaf Geld zu verdienen, wirst du arbeiten müssen, bis du stirbst.«
Die IMler tragen Titel, die ihren Rang im Strukturvertrieb angeben. Ein P600 wie Tim Heine hat mehr als zwölf aktive Nutzer unter sich und bekommt dafür wöchentlich 150 Dollar. Bei einem Chairman 10 wie Micky Gal sind es mehr als 500 Mitglieder und 2500 Dollar die Woche. Den meisten scheint es vor allem um diese Provisionen zu gehen. Dafür, dass hier eine Trading-Lernplattform verkauft werden soll, wird erstaunlich wenig über Trading gesprochen. Dafür viel über Träume und Mindset.
»Mit wenigen Hundert Euro kannst du hier Millionär werden«, wird auch ein IMler namens Dominik zwei Tage später in einem Zoom-Call versprechen. »Dann bist du schneller nicht mehr am Arbeiten, als du gucken kannst.« Schmitz zieht seine Aussage auch später nicht zurück, als er schriftlich damit konfrontiert wird. Alle übrigen IMler reagieren nicht auf Bitten um Stellungnahmen.
Laut den AGB der IM Academy müssen Vertriebler mindestens 18 sein. Tatsächlich fangen viele weit früher an. Er habe mit 16 seine ersten Leute geworben, erzählt einer. Die Provision bekomme man über Onlinedienste wie Payquicker. So könne man gleich noch »Steuern dribbeln«. Payquicker hat auf Bitten um Stellungnahme nicht reagiert.
Gegen halb zehn erklimmt Silas Glaser, P2000, die Bühne und leitet eine Art rhythmische Sportgymnastik an. »Alle aufstehen!«, befiehlt er. »Und wieder hinsetzen!« – »Und wieder aufstehen!« – »Und wieder hinsetzen!« – »Wenn ihr es im Kleinen nicht macht, kriegt ihr es auch im Großen nicht hin.«
Viele IMler machen die Turnübungen mit. Sie hoffen, mit Recruiting reich zu werden. Dabei ist tief unten auf der IM-Webseite ein PDF verlinkt, dass die Einkünfte aller Vertriebler in den USA aufschlüsselt. Rund zwei Drittel verdienen weniger als 500 Dollar pro Jahr, nicht einmal ein Prozent mehr als 25.000 Dollar.
Nach drei Stunden Show und dem beständigen Einhämmern immer derselben Slogans beginnt man zu ahnen, was die Psychologin mit toxischer Positivität gemeint hat. Drinnen tobt der Saal, lockt das Versprechen auf eine bessere Zukunft – draußen wirkt der leer gefegte Alexanderplatz trostlos, fast einsam.
Die Bilanz
Daniels IM-Bilanz fällt bescheiden aus. Sein Kryptokonto ist im Minus. Den Dropshipping-Shop, bei dem Ware direkt vom Großhändler zum Kunden geliefert wird, hat der Vater mit Verlust liquidiert. Bei einer Simulation für Devisenhandel ist Daniel schon dreimal durchgerasselt. Rund tausend Euro hat er in die Kurse der IM Academy gesteckt, Hunderte weitere Euro für Reisen zu IM-Veranstaltungen ausgegeben. Das Sparkonto ist fast leer. Verdient hat er bisher überhaupt nichts.
In den vergangenen neun Monaten hat Daniel sein IM-Abo manchmal pausiert. In diesen Phasen äußert er sich etwas kritischer über die Firma. Er lerne dort nichts Neues mehr, sagt er einmal. Das Mindset habe er ohnehin intus. Ein paar Wochen später tritt er doch wieder bei – wegen angeblicher Tipps zum Devisenmarkt in Zeiten des Ukrainekriegs. Um die Monatsgebühr zu finanzieren, verkauft er seinen alten Laptop.
Plattformen wie die IM Academy verstoßen mit ihren Geschäftspraktiken möglicherweise gegen mehrere Gesetze. Überzogene Gewinnversprechen können »den Tatbestand einer irreführenden oder sogar strafbaren Werbung erfüllen«, sagt Markus Moser von der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Herfurtner. Das Hinterziehen von Steuern sei freilich auch illegal. Und Copy-and-Paste-Trading könnte eine Art von Anlageberatung sein. »Doch dafür hat die IM Academy in Deutschland gar keine Zulassung.«
Die Finanzaufsicht Bafin ermittelt bislang nicht gegen die IM Academy. Doch selbst wenn sie die Seite irgendwann sperren sollte, wären Jugendliche wie Daniel kaum besser geschützt. Es gibt viele weitere solcher Firmen. Seiten wie »Bossbabesinvest« oder »Questra«. Dubiose Finanzgruppenchats auf WhatsApp oder Discord. Der Bafin lagen allein im vergangenen Jahr 1332 Verdachtsfälle für illegale Anlageberatung vor.
Dazu stellt sich die Frage, ob die IM Academy ein illegales Pyramidensystem ist. Laut Moser fallen darunter Unternehmen, »bei denen es im Kern gar nicht um das Produkt geht, sondern um das Anwerben möglichst vieler zahlender Mitglieder«. Bei der IM deutet einiges auf ein solches System hin.
Die Behörden sind dagegen oft machtlos. Denn die EU-Gesetze gegen Strukturvertriebe sind schwach – und die Grenze zu einem Pyramidenschema ist fließend. Oft reicht es, dass solche Firmen irgendein Produkt, irgendeine Dienstleistung anbieten. Vielleicht einen Mindset-Kurs, egal ob dieser sein Geld wert ist.
Immerhin, im Netz formiert sich inzwischen privater Widerstand. Auf YouTube, Instagram oder Reddit machen Nutzer die Methoden der Onlineakademien transparent. Es gibt Erfahrungsberichte von Aussteigern. Foren, die Lockversuche von Strukturvertrieblern an den Pranger stellen oder sich darüber mokieren. Die YouTuberin Chelsea Suarez etwa schleicht sich manchmal mit Aluhut in die Zoom-Calls der IM Academy.
Daniel Gräbers Verhalten hat sich in den vergangenen Monaten spürbar verändert. Er wirkt selbstsicher. Lässt Dinge öfter im Ungefähren. Benutzt dieses diffuse »Wir«, bei dem nicht klar ist, wer gemeint ist.
Seit Frühjahr postet er selbst Protzvideos auf Instagram. In einem lässt er den Motor eines parkenden Lamborghini aufröhren. Anfang April erwähnt Daniel, dass sich Leute bei ihm melden und nach der IM Academy fragen. Bis zum Sommer wolle er P600 sein.
Mitte Mai will er davon nichts mehr wissen. Er sei wieder raus aus der Academy, sagt er. Seine Tradingbilanz habe sich verbessert. Ein Privatinvestor will ihm angeblich Geld zum Traden leihen.
Nach der Schule fährt Daniel oft nach Frankfurt. Angeblich trifft er sich dort mit Millionären. Sie gehen zusammen in Uhrenläden. Machen Selfies vor verglasten Wolkenkratzern. Wollen zusammen ein Büro mieten. Seine neuen Freunde sind meist über 20. »Alles ist auf einem höheren Level«, sagt Daniel. »Die Gespräche sind erwachsener, die Themen relevanter.«
Seine Mutter ist tief verzweifelt. Er wolle sie neuerdings in Frankfurter Luxusshops ausführen, erzählt sie. Der Vater hat inzwischen die Taktik geändert. Statt die IM Academy zu kritisieren, nutzt er sie öfter als Anreiz. Bei guten Noten will er Daniel die Aufnahmegebühr für eine Finanzplattform zahlen, die freiberuflichen Tradern Kapital verspricht. Das Schulthema scheint sich seitdem zu entspannen.
»Ich werde auf jeden Fall Abi machen, sagt Daniel nun. Seine Drohungen, die Schule zu schmeißen, seien ohnehin nie ganz ernst gewesen.
Zur Abifeier will er im Lamborghini vorfahren. Eine Zigarre rauchen. Vielleicht einen Bademantel tragen. »Das wär doch ein cooler f*ck-you-Impuls.«
*Die Namen aller Personen wurden geändert.